Orthografische Desorientierung

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Die Aufgabe von Rechtschreibregeln ist es, zu ordnen – Zusammengehörendes zu kennzeichnen und Unterschiedliches zu markieren –, um Klarheit zu schaffen. Die Rechtschreibung ist also ein Hilfsmittel der Kommunikation.
Eine wesentliche Störung der schriftlichen Kommunikation ist zum Beispiel eine „falsche“ Rechtschreibung, denn der Bruch der schriftlichen Konventionen in einer Schriftkultur – ob gewollt oder ungewollt – erzeugt Reibung mit dem Erwarteten, dem Gewohnten und vor allem mit dem Vereinbarten. Bei diesem Bruch der Konventionen wird die Arbeit, diese Regelbrüche zu „entcodieren“, auf die Lesenden übertragen. Und die Arbeit wird von diesen meist eher unwillig geleistet.
2011 stellte der Rat für deutsche Rechtschreibung nach der Auswertung mehrerer Studien fest: „Jeder fünfte 15-Jährige ist ein Analphabet“. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass keinerlei Lese- und Rechtschreibfähigkeiten bestehen, sondern es handelt sich dabei um eine sogenannte orthografische Desorientierung. Für diese konstatierte „orthografische Desorientierung“ wird in der öffentlichen Debatte vor allem die Rechtschreibreform von 2006 verantwortlich gemacht. Auch die Einflüsse von Werbe- und Jugendsprache und der zunehmende Einfluss des Englischen auf Sprache und Schrift wird oftmals beklagt.
Zwar ist es Allgemeingut, dass sich Sprache und Schriftkultur in keinem statischen Zustand, sondern in einem ständigen Prozess befinden. Dieser Sprachwandel wird in den öffentlichen Sprachkritiken jedoch fast ausschließlich kritisch bis ablehnend thematisiert, während die Inkonsistenzen der tradierten Rechtschreibregeln kaum bis gar nicht problematisiert werden – dabei gab es diese ja auch zuhauf.
Entgegen der in Debatten oftmals geäußerten Meinung wird weder die Funktion noch Fähigkeit der deutschen Schriftkultur durch die seit der letzten Rechtschreibreform erweiterten Möglichkeiten der Schreibvarianten beeinträchtigt. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die konstatierte „orthografische Desorientierung“ ein vorübergehender Prozess ist. Zudem funktioniert Kommunikation, ob schriftlich oder mündlich, auch in manchmal erstaunlich weit gefassten Varianten.
Es wäre daher zu wünschen, dass die positiven Aspekte des Sprachwandels – nämlich die inspirierenden, neu sprachschöpferischen, „offeneren“ und damit zugleich vereinfachenden Entwicklungen – bei dieser Debatte stärker in den Blick geraten.